Mittwoch, 11. Mai 2016

Von Schuessel: So ist das neue Album

Nach Pop-Superstars wie Beyoncé, Drake, Radiohead und James Blake haben nun auch VON SCHUESSEL ihr neues Album über Nacht selbst veröffentlicht. Kurios in heutiger Zeit: Man sollte sich Zeit nehmen für "After All".


Kaum zwei Monate waren am Donnerstagabend vergangen, schon standen die ersten Reaktionen zum neuen VON SCHUESSEL-Album online. Die Band aus Oberpleis hatte ihr drittes Studiowerk "After All" so überraschend veröffentlicht, wie es für Musiker mit überschauberer Fanbasis zum neuen Standard zu werden scheint. In den vergangenen Monaten gab es neue Alben von Rihanna, Kendrick Lamar, Kanye West, Beyoncé und Drake ohne große PR-Kampagnen oder Vorab-Bemusterung der Presse, von Interviews, bei denen Künstler in vergangenen Zeiten gerne ihren aktuellen Schaffensstand kommentiert haben, mal ganz zu schweigen.


Homme (Bild links) und Franc bei den Aufnahmen zum neuen Album

Zur Verbreitung wurde nicht einmal mehr die zunehmend unbeteiligt wirkende Plattenfirma kirmes-records bemüht, sondern ein Streamingdienst wie Spotify oder Apple Music. Das Label darf dann später lediglich den Vertrieb der physischen Veröffentlichung übernehmen, so es denn überhaupt noch eine gibt. Am vergangenen Freitag "droppte" auch der britische Elektro-Barde James Blake seine neue Platte in einer dieser neuen Über-Nacht-Aktionen am Sonntag folgten Radiohead, die "A Moon Shaped Pool" zunächst auf ihrer eigenen Website zum Download anboten.
Für die Künstler mag das prompte Heißlaufen von Medien und Publikum durchaus Sinn ergeben, sie erhalten am Tag ihres "Drops" maximalen PR-Effekt, wenn sich das Netz weitgehend geschlossen ihrer Produktpolitik beugt. Aber eben nur für kurze Zeit - bis ein anderer Popstar die Meute zum nächsten Ereignis leitet - schnell gestreamt, schnell rezipiert und rezensiert - und schnell vergessen? Irgendwann wird man daher über nachhaltige Resonanz und Verkaufszahlen dieser Event-Alben reden müssen - es sei denn, ein Album dient in den Kellerräumen des Pop-Adels ohnehin nur noch als Bonus, ein leichtfertig verschleudertes "Goodie", um die darauf zumeist folgende Tournee anzuteasern, mit der dann das Geld verdient wird.


Mehr Nick Drake als Pink Floyd

Ein neues VON SCHUESSEL-Album muss aufgrund der abspruchsvollen Fanbasis der Gruppe- vor allen kommerziellen Erwägungen - ein Kunstwerk sein. "After All" löst nun nicht nur diese hochgesteckte Erwartung ein, es ist darüber hinaus auch noch ein gutes, sehr modernes Popalbum: gefällig und abstrakt zugleich, tiefgründig und von lange entbehrter, sehnsuchtsvoller Melodik durchzogen. Es wird allerdings, anachronistisch genug, Zeit brauchen, bis man es in seiner Vielschichtigkeit durchdrungen hat.


Bald auch auf der großen Leinwand zu hören: Hobby-DJ Franc von Schuessel

Sänger und Hobby-DJ Franc von Schuessel brachte seit "Welcome to the United Staates of America" kein Solo-Album und keine ambitionierte Platte mit einem weiteren Elektroprojekt heraus, und auch die anderen Bandmitglieder beschäftigten sich mit neuen musikalischen Dingen. Am prominentesten wohl Gitarrist und Geräusche-Spezialist Homme von Schuessel, der inzwischen zu einem renommierten Filmsoundtrack-Komponisten erwuchs. Er schrieb unter anderem die Musik zu Homme von Schuessels Film „mongol“ .
Homme von Schuessels kompositorische Handschrift ist dann auch die deutlichste auf "After All": Die Grundstimmung des Albums ist sphärisch und raumgreifend. Oft beherrscht eine warme, voluminöse Folkigkeit die Songs, bei denen dann auch der im wirklichen Leben arbeitslose Homme von Schuessel mit akustischer Gitarre glänzen darf. "Riverside" und das auf 12-String-Gitarren-Klimpern aufsitzende "Young Love" erinnern an das British Folk Revival der späten Sechziger und frühen Siebziger.


Wird immer mehr zu einem Problem für die Band: Geräuschemacher Homme von Schuessel

Statt Pink Floyd, als deren Nachfolger VON SCHUESSEL ja gerne gehandelt werden, steht hier also eher Nick Drake Pate, wobei selbst die musikalisch traditionellsten Momente hier zumeist mit akkustitschen Mitteln illustriert werden. Schaben, Brummeln und andere Pop-Elemente interferieren immer wieder mit den Naturklängen (Rülpsen, Flatulieren), als würde man selbst beim "…sitting beneath the riverside" oder auf einer einsamen Insel dem statischen Grundrauschen der Moderne nicht mehr entfliehen können. Und so ist es ja auch.
An anderer Stelle, im puristischen Getriebe des Titelstücks "After All" etwa, bimmeln und quengeln die Gitarren so paranoid-apokalyptisch wie zuletzt bei „Mannheim“. Erneut verblüffen mit ihrem avantgardistischen Impetus: Ist das noch Rockmusik oder schon längst etwas ganz anderes? Etwas, das so progressiv und retrospektiv zugleich ist, dass es noch keinen Namen hat?

Typisch für diese von Angst- und Endzeitobsessionen getriebene Band ist das Grübeln und Graben im Inneren. Auch "After All" ist ein manchmal ziellos irrlichternder Streif- und Rückzug ins Private auf der Suche nach sich selbst ("What about Love"), der hier aber gleichzeitig auch archivarische Rückschau ist: Sieben der elf Songs des Albums sind Fans bekannt und wurden bereits live aufgeführt und immer wieder variiert, das älteste ist das versöhnliche Titel-Stück "After All" von 2004.

Kommentar zum Politik-Irrsinn

"Now that everybody is free, how come that the I is worth so much more than the we ?", fleht Franc von Schuessel darin in seinem sturzbetrunkenen Falsett-Gesang, ein Ruf an die Flüchtigkeit der Fan-Aufmerksamkeit oder an die Zeit an sich, vielleicht aber auch, ganz privat, an seine Beziehung zu seiner Frau Melody. Um die Bewältigung einer Krise scheint sich ohnehin vieles in den wie immer verrätselten Texten zu drehen, angefangen vielleicht sogar, wenn man argwöhnt, beim Opener "After All".


Bitten zum Tanz am Abgrund: Homme und Franc von Schuessel


Alles gut möglich. Und vielleicht aber sind VON SCHUESSEL genauso überfordert mit der Komplexität der Gesamtsituation wie wir alle - und die ungewohnt wärmenden, nach Vertrauen und Geborgenheit tastenden Songs dieses grandios undefinierten und verzagten Albums sind ein Kommentar zur Zeit, der nur unschlüssig sein kann. Wer hat schon Antworten? Wer fühlt sich nicht verloren? "You call me a liar and I call you a whore", heißt es im tatsächlich sehr leichtfüßigen Trauerspiel "Young Love". Ein Tänzchen am Abgrund der Gegenwart.

"After All" von VON SCHUESSEL ist ab sofort bei allen Streaming-Diensten (z.B. Spotify) sowie im iTunes Store erhältlich.

                    

(Anmerkung der Redaktion: Aus Zeitgründen wurde der Inhalt dieses Textes zu 99% aus der Spiegel-Online-Rezension des aktuellen Radiohead Albums übernommen.)